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Die Reform der UN-Charta und das unerfüllte Versprechen von San Francisco

Bild: Konferenz von San Francisco, 25. April 1945, UN-Foto 256771

Das Vetorecht im UN-Sicherheitsrat

Der Sicherheitsrat ist das mit der Aufrechterhaltung des “Weltfriedens und der internationalen Sicherheit” betraute Organ der Vereinten Nationen und stellt nach internationalem Recht die oberste Instanz im Bezug auf Konfliktlösungen dar. Wenn man sich die Jahrzehnte vor Augen hält, die seit der Gründung des Sicherheitsrats 1945 vergangen sind, ist er komplett gescheitert.

Komplettes Versagen des Sicherheitsrats seit 1945

Die Vetomacht der fünf ständigen Mitglieder (P5) im Sicherheitsrat hat nicht nur mit verheerenden Folgen zu Untätigkeit geführt, sondern gibt auch Grund zur Sorge, dass der Rat eine Rolle als Quasi-Weltgesetzgeber übernimmt und damit auch Ländern, die nicht im Organ vertreten sind, verbindliche Vorgaben macht. Außerdem wurde bisher nur eine einzige Anpassung vorgenommen, um mit dem ständigen Wandel des geopolitischen Umfelds Schritt zu halten (die Erweiterung des Rates von 11 auf 15 Mitglieder, ohne jegliche Änderung der Zusammensetzung oder der Befugnisse der ständigen Mitglieder) und diese wurde im Bezug auf eine demokratischere Vertretung der Regionen und Völker der Welt als unzureichend angesehen.

Von den Gründervätern vorhergesehene Mängel

Diese Mängel im System wurden von den Unterzeichnern der UN-Charta bereits bei der Konferenz von San Francisco 1945 antizipiert. Vor allem das Vetorecht, das sich die P5 selbst einräumten, provozierte heftigen Widerstand.

Das Vetorecht provozierte von Anfang an heftigen Widerstand

Das damalige geopolitische Kräfteverhältnis machte es den kleineren Ländern jedoch unmöglich, sich über verbalen Widerstand hinaus gegen die Vereinigten Staaten als treibende Kraft der Gründungszeit zu behaupten. Deshalb war es den US-Vertretern möglich kritische Stimmen zu beruhigen, indem sie einen Mechanismus zur weiteren Demokratisierung und Reform des Sicherheitsrats zu einem späteren Zeitpunkt anboten.

Ein Vetorecht bei der Änderung des Vetorechts

Dieses Zugeständnis der USA erfolgte in Form der Artikel 108 und 109, welche die Überprüfungsverfahren der Charta betreffen. Während Artikel 108 die notwendigen Schritte für spezifische Änderungen beschreibt, sieht Artikel 109 die Möglichkeit einer Überprüfungskonferenz außerhalb der üblichen Generalversammlungen vor, um eine umfassende “Überprüfung” der Charta zu erreichen. Beide Artikel und die darin beschriebenen Mechanismen zur Reform der UN-Charta fordern, dass eine Zweidrittelmehrheit der UN-Mitgliedstaaten für eine vorgeschlagene Änderung stimmt und diese ratifiziert. Darüber hinaus müssen aber auch alle ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates die Änderung ratifizieren, bevor sie in Kraft treten kann. Diese einstimmige Absegnung durch die P5 stellt die größte Herausforderung für eine Änderung der UN-Charta dar, insbesondere wenn das Interesse eines P5-Mitglieds betroffen ist oder die privilegierten Vetorechte der P5 selbst limitiert  oder aufgehoben werden sollen.

Artikel 109 Absatz 3 – ein unerfülltes Versprechen

Der kritische Vorteil von Artikel 109 gegenüber 108 findet sich im dritten Absatz. Die Verfasser der UN-Charta und alle Länder, die sie unterzeichneten, sahen eine Generalkonferenz (Überprüfungskonferenz) vor. Diese sollte spätestens auf der zehnten Jahrestagung der Generalversammlung stattfinden. Für den Fall, dass dies nicht geschehen sollte, war geplant, dass die Konferenz dann einberufen wird, “wenn dies von der Mehrheit der Mitglieder der Generalversammlung,  einschließlich der Stimme von sieben Mitgliedern des Sicherheitsrates beschlossen wird”.

Die Einberufung einer Überprüfungskonferenz bedarf keiner P5-Genehmigung

Mit anderen Worten war es nicht nur die Absicht, eine solche Überprüfungskonferenz abzuhalten, sondern auch das Verfahren zu ihrer Einberufung für die Zeit nach der zehnten Sitzung erheblich zu vereinfachen. Es bedarf dann nur noch einer einfachen Mehrheit sowohl in der Generalversammlung als auch im Sicherheitsrat. Entscheidend ist, dass hier kein Veto eingelegt werden kann. Seltsamerweise ist trotz der weit verbreiteten Unzufriedenheit mit dem gegenwärtigen Zustand des Sicherheitsrats und trotz der Bestimmung, spätestens 1955 eine Überprüfungskonferenz abzuhalten, bis heute nichts dergleichen geschehen.

Ein verlorener Kampf?

Der Grund, warum die meisten Völkerrechtler und Politiker diesen Reformmechanismus in der Vergangenheit vernachlässigt haben, liegt in der zweiten Phase des in Artikel 109 beschriebenen Verfahrens. Bei der Ratifizierung der durch die Überprüfungskonferenz empfohlenen Änderungen ist nicht nur eine Zweidrittelmehrheit der UN-Mitgliedsstaaten erforderlich, sondern auch, dass alle P5 dafür stimmen. Wieder einmal steht die Vetomacht zwischen der Notwendigkeit und dem Wunsch nach demokratischen Reformen, und deren Umsetzung in Form von Änderungen der UN-Charta.

Praktisch gesehen ist es aber unklar, wie ein Mitglied der P5 einen aus einer solchen Konferenz resultierenden Änderungsvorschlag überhaupt ablehnen kann. Beispielsweise ist es in der Charta nicht explizit ausgeführt, wie lange der Ratifizierungsprozess dauert und was passiert, wenn ein Mitglied der P5 sich der Ratifizierung enthält und damit dem Ergebnis der Überprüfung weder zustimmt noch widerspricht. Sobald Änderungen beschlossen wurden und ein Ratifizierungsprozess begonnen hat, haben sich die P5 in der Vergangenheit als viel bereitwilliger gezeigt, dem globalen politischen Druck der Mehrheit nachzugeben, obwohl sie formal gesehen die Macht gehabt hätten, jedem Änderungsversuch im Alleingang ein Ende zu setzen.

Was kommt als Nächstes?

Obwohl es mehrere Möglichkeiten gibt, besteht die wahrscheinlichste Option für eine Wiederbelebung des Artikels 109 (3) darin, dass einer oder mehrere Staaten ihn auf die Tagesordnung der Generalversammlung setzen. Dies wäre am vielversprechendsten, wenn eine kritische Masse von Ländern aus verschiedenen Regionen der Welt, die sich für eine Reform des Sicherheitsrates einsetzen, bereits erreicht worden ist.  Ein weiterer Akteur, der die Gelegenheit nutzen könnte, seine wachsende Macht zu nutzen, ist die Europäische Union, deren Gründungsvertrag in Artikel 34 eine Rechtsgrundlage für eine einheitliche Haltung der Mitglieder gegenüber den Vereinten Nationen bietet. Bedenkt man außerdem den Mangel an Einfluss, den EU-Staaten in der Vergangenheit auf die Ausarbeitung der UN-Charta gehabt haben, scheint es nun an der Zeit zu sein, dass Europa die Führung bei der Einleitung eines Überprüfungsprozesses eben jener Charta übernimmt. Aber unabhängig davon, welche Länder die Initiative ergreifen, ist es eine Tatsache, dass die Aktivierung von Artikel 109 immer noch eine Option darstellt und dass die Erfolgsaussichten für eine dadurch angestrebte, dringend notwendige Reform des Sicherheitsrates nicht so gering sind, wie manche annehmen.

Shahr-yar Sharei
Shahr-yar is founder and director of the Center for UN Constitutional Research in Brussels