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Sieben Gründe für eine Welt mit offenen Grenzen

Jonathan McIntosh, CC-BY-2.5

Seien wir ehrlich: die meisten unter uns befürworten freien Personenverkehr schon längst, zumindest wenn es sie selbst betrifft. Wenn uns aber wirklich etwas an Gerechtigkeit und dem Kampf gegen Armut liegt, müssen wir beginnen, eine Welt mit offenen Grenzen anzustreben.

Folgende sieben Gründe sprechen dafür:

1. Grenzen sind eine Form von globaler Apartheid

Grenzen sichern Privilegien der Wohlhabenden auf Kosten der Armen, indem sie die Freizügigkeit der ärmsten Völker der Welt einschränken und ihnen damit den Zugang zu Ressourcen und Möglichkeiten verwehren, die in reichen Ländern verfügbar sind.

Moderne Einwanderungsbestimmungen existieren, um dem Wunsch der Privilegierten der Welt nachzukommen, „Unerwünschte“ von ihnen fernzuhalten. Grenzen können verzweifelte Menschen aber nicht davon abhalten, auszuwandern, sondern machen ihre Reise nur beschwerlicher. Viele Menschen sehen sich gezwungen, ihre Heimat aufgrund von Faktoren zu verlassen, die außerhalb ihrer Macht liegen, seien es politische Konflikte, Armut, wirtschaftliche Ungerechtigkeit oder Auswirkungen des Klimawandels.

Wir leben in einer Welt beispielloser Ungleichheiten. Moderne Grenzen haben sich zu einer Form von globaler Apartheid entwickelt: Apartheid zwischen jenen, die Zugang zu Ressourcen und Chancen erhalten, und jenen, denen dieser verwehrt wird. 

2. Grenzen erzeugen Gewalt, können Immigration jedoch nicht stoppen

Die Zahl der Todesopfer unter jenen, die Grenzen zu überqueren versuchen, hat ein nie dagewesenes Ausmaß erreicht. Alleine im vergangenen Jahr sind mehr als 5000 Menschen bei dem Versuch, Europa zu erreichen, im Mittelmeer ums Leben gekommen. Anstatt sichere Überquerung zu gewährleisten, reagiert Europa mit verschärften Grenzkontrollen, die Menschen dazu zwingen, noch gefährlichere Reisen auf sich zu nehmen.

Grenzen können verzweifelte Menschen nicht davon abhalten, auszuwandern.

Während die EU auf der Personenverkehrsfreiheit innerhalb der Union beharrt, hat sie sich für die Außenwelt zur „Festung Europa“ entwickelt. Europas Außengrenzen sind mittlerweile die gewaltsamsten der Welt – mehr Menschen sterben an Europas Grenzen als an allen anderen Grenzen weltweit.

Projekte wie die EU-Operation „Sophia“, eine Marinemission die durch die Gewässer in der Nähe Libyens patrouilliert, um Schlepperboote anzuhalten, zu durchsuchen und zu vernichten, haben zur Folge, dass noch billigere und unsicherere Schlauchboote verwendet werden und die Reise der Menschen somit noch gefährlicher wird.

Trotz UN-Berichten über weitverbreiteten Missbrauch und Gewalt an den brutalen ausgelagerten Grenzen Europas finanziert die EU weiterhin Internierungslager für Migranten an Orten wie Libyen.

Auch wenn ein Migrant Europa erreicht, besteht die große Wahrscheinlichkeit, dass er in dem derzeitigen System von Masseninhaftierung und Abschiebung weiterer Gewalt oder Festnahmen ausgesetzt ist. In Großbritannien werden jährlich mehr als 30.000 Menschen in Internierungslager für Migranten geschickt. Australien verfrachtet Asylwerber bekanntlich in ausgelagerte Internierungslager in Papua-Neuguinea. In den USA, wo sich das größte Internierungslager für Migranten befindet, wurden letztes Jahr schätzungsweise 350.000 Migranten in solche transportiert. Europas tödliche Deportationssysteme, wie der „Joint Way Forward“ Deal mit Afghanistan hat zur Folge, dass Menschen in ihre Herkunftsländer zurückgeschickt werden, wo sie Verfolgung, Folter oder sogar der Tod erwartet.

Doch diese Abschreckungsmethoden sowie brutale Grenzschutzerweiterungen hindern Menschen nicht daran, auszuwandern.

3. Migranten für niedrige Löhne verantwortlich zu machen, spaltet Arbeitskräfte und erzeugt einen Abwärtswettlauf

Migranten aus der Arbeitswelt auszuschließen und ihnen Zugang zur Grundversorgung zu verwehren, hindert diese daran, ihren Beitrag zur Gesellschaft sowie zur Wirtschaft zu leisten.

So sehen sie sich gezwungen, in der Schattenwirtschaft tätig zu werden, wo sie meist weit unter dem Mindestlohn bezahlt werden, was wiederum immer schlechtere Arbeitsbedingungen zur Folge hat. Dies kann nur durch legale Arbeitsmöglichkeiten verhindert werden.

Zahlreiche Studien zeigen, dass sich Zuwanderung, wenn überhaupt, nur minimal auf Löhne auswirkt. Die wahrscheinlich ausführlichste einschlägige Studie stammt aus Dänemark. Wirtschaftswissenschaftler haben Löhne und Arbeitsverhältnisse aller Arbeitskräfte des Landes zwischen 1991 und 2008 untersucht und die Auswirkungen von großen Zuwanderungswellen von Flüchtlingen beobachtet. Sie sind zu der Erkenntnis gekommen, dass Löhne niedrig qualifizierter Arbeitnehmer und Erwerbstätigkeit als Reaktion auf die Zuwanderung von Flüchtlingen angestiegen sind. Dies rührt daher, dass Zuwanderer nicht nur Arbeitnehmer sind, sondern auch Konsumenten, die am gesellschaftlichen Leben teilhaben, was wiederum die Schaffung neuer Arbeitsplätze ermöglicht.

Anstatt Grenzen zu schaffen, sollten wir uns mehr darauf konzentrieren, für die Rechte aller Arbeitnehmer zu kämpfen und zwar unabhängig von ihrem Herkunftsland.  

4. Mehr Migranten hätten die Möglichkeit, sicher in ihre Heimat zurückkehren

Offene Grenzen würden bedeuten, dass Menschen sich frei bewegen können, was wiederum mehr Immigranten ermöglichen würde, in ihr Herkunftsland zurückzukehren, ohne dabei den Gefahren ausgesetzt zu sein, die momentan mit der Grenzübertretung einhergehen. So haben beispielsweise 70 Millionen Mexikaner in den späten 60er Jahren des 20. Jahrhunderts die Grenze in die USA überquert, 85% davon sind später in ihre Heimat zurückgekehrt. Da die amerikanische Grenze in den letzten Jahrzehnten stark militarisiert wurde, sind die Gefahren, die mit dem Personenverkehr verbunden sind jedoch gestiegen und entmutigen Immigranten daher, zurückzukehren.

5. Offene Grenzen würden die Welt reicher machen

Angaben des Wirtschaftswissenschaftler Michael Clemens zufolge könnten offene Grenzen das globale BSP verdoppeln, da der Ortswechsel eines Arbeitnehmers in eine höherwertige Wirtschaft dessen ökonomische Produktivität erhöht.

Der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) zufolge ist der Beitrag den der durchschnittliche Zuwandererhaushalt leistet, höher, als der Betrag an Leistungen, die er erhält.

Natürlich sollte der wirtschaftliche Wert eines Menschen niemals die alleinige Basis sein, aufgrund derer ihm das Recht auf Freizügigkeit gewährt wird – und ebenso wenig sind das BSP oder das wirtschaftliche Wachstum der beste Maßstab für Wohlstand. Dennoch können wir uns sicher sein, dass die Weltwirtschaft unter einem System freier Grenzen nicht zusammenbrechen würde.

6. Personenverkehrsfreiheit darf nicht nur einigen wenigen gewährt werden

Europäer haben dieses Recht immer schon für sich beansprucht, ebenso hunderttausende Menschen die im 17. und 18. Jahrhundert nach Nordamerika ausgewandert sind. Staatsbürger reicher Länder berufen sich weiterhin auf ihr Recht, sich frei zu bewegen. Gegner der Personenverkehrsfreiheit sind wohl kaum bereit ihr eigenes Recht auf Auswanderung, Arbeit, Ausbildung oder Reisen einschränken zu lassen. Argumente für das Verhindern des freien Verkehrs sind immer mit der Annahme verbunden, dass es sich hierbei nur um die Beschneidung der Freiheit der „anderen“ handelt.

Das moderne System des Grenzschutzes ist darauf aufgebaut, dass der Zufall der Geburt das Ausmaß bestimmt, in welchem man sein Recht auf freien Personenverkehr ausüben kann.

7. Offene Grenzen existieren bereits für die Reichen der Welt – es ist an der Zeit, diese auf alle auszudehnen

Für die Kapitalverkehrsfreiheit existieren kaum Grenzen und multinationale Unternehmen können Grenzen mit Leichtigkeit überqueren, um Ressourcen zu erlangen und günstige Arbeitskräfte zu nutzen. Die Reichsten der Welt haben die Möglichkeit, Staatsbürgerschaften zu kaufen, einschließlich innerhalb der EU. In Zypern kann man die Staatsbürgerschaft für ein Investment von 2 Millionen Euro erlangen, während Portugal ein umfassendes Aufenthaltsrecht für nur 500.000 Euro anbietet.

Die fremdenfeindlichen Medien mit ihren lauten Forderungen nach einem Zuwanderungsstopp von verzweifelten Menschen, die den Schrecken des sogenannten Islamischen Staates zu entkommen versuchen, sind auffallend ruhig, wenn es um den freien Personenverkehr von Milliardären und Oligarchen geht – und deren Rechte, luxuriöse Immobilien in Städten wie London zu kaufen und die Ärmsten gleichzeitig zu vertreiben.

Es ist schlichtweg ungerecht, dass es wohlhabenden Menschen ermöglicht wird, Jobs auf der ganzen Welt auszuüben, während einfachen Arbeitskräften das Recht auf Personenverkehrsfreiheit verwehrt wird.

Es mag nicht möglich sein, alle Grenzen über Nacht zu öffnen. Es wäre aber ein erster Schritt, die Bedingungen zu schaffen, unter denen dieses Ziel verwirklicht werden kann, etwa durch die Einführung eines globalen Mindestlohns und weltweiter Mindeststandards bei Arbeitnehmerrechten.

Eine längere Variante dieses Posts wurde ursprünglich auf englisch vom New Internationalist veröffentlicht. 

Bild: Demonstration für die Rechte von Immigranten in Los Angeles am 1. Mai 2006, von Jonathan McIntosh, CC-BY-2.5 

Aisha Dodwell
Campaigns and policy manager at Global Justice Now