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Bürgerräte dienen der Deliberation, nicht der Gesetzgebung

The Irish Citizens' Assembly is considered a successful example for a deliberative citizens' body. Image: citizensassembly.ie

Wenn alles nach Plan läuft, könnte die irische Verfassung 2023 dahingehend geändert werden, dass sie Umweltrechte sowohl für die Menschen als auch für die Natur selbst enthält. Dies wäre nicht nur ein Sieg für den Umweltschutz, sondern auch ein großer Sieg für die deliberative Demokratie, da der betreffende Plan nicht von Politiker/innen, sondern von normalen Bürger/innen ausgearbeitet wurde.

Im November 2022 stimmten 83% der 99 Teilnehmer/innen der Citizens‘ Assembly on Biodiversity Loss, des Bürgerrates zur Frage der Biodiversität, für eine Empfehlung, die den Bürger/innen und der Natur „substanzielle und prozedurale Umweltrechte“ zugesteht. Wenn das Oireachtas, das irische Parlament, der Empfehlung zustimmt, wird ein Referendum abgehalten werden. Die breite irische Öffentlichkeit wird dann entscheiden, ob die irische Verfassung geändert werden soll.

Die Mitglieder der Versammlung haben guten Grund, hoffnungsvoll zu sein. Seit 2012 haben vier Empfehlungen von Bürgerräten dazu geführt, dass Referenden vom Parlament gebilligt wurden. In drei Fällen folgten Verfassungsänderungen, darunter zu den Themen Abtreibung und gleichgeschlechtliche Ehe – die im katholischen Irland höchst umstritten waren. Damit ist Irland weltweit führend bei der Einbindung von Bürgerräten in politische Prozesse.

Aber was macht den irischen Ansatz bei den Bürgerräten so erfolgreich?

Empfehlungen der Bürgerräte: Was passiert als nächstes?

Stellen Sie sich Folgendes vor: In einem deliberativen Beispielprojekt verwenden 100 Bürger/innen sechs oder sieben ihrer Wochenenden, verteilt über mehrere Monate, um über ein Thema nachzudenken. Sie hören sich Expert/innenaussagen an, stellen Fragen, diskutieren das Thema in Gruppen und erarbeiten schließlich eine Reihe von Empfehlungen auf der Grundlage ihrer Erkenntnisse.

Aber dann – passiert nichts.

Dies ist das Alptraumszenario für eine Bürgerversammlung. Auf dem Papier versprechen sie, den Bürger/innen eine Stimme zu wichtigen Themen zu geben, aber Tatsache ist, dass es keine verbindliche Vorgehensweise gibt, wenn es darum geht, sie in den breiteren politischen Diskurs einzubinden. Das Vertrauen der Öffentlichkeit in solche Initiativen ist zerbrechlich und kann nur schwer wiedergewonnen werden, wenn es einmal durch Untätigkeit verloren gegangen ist. Dies war bereits das Schicksal mehrerer großer Bürgerräte zum Klimawandel, die ehrgeizige Vorschläge machten, von denen jedoch nur wenige, wenn überhaupt, angenommen wurden.

Sitzung der irischen Bürgerversammlung im Jahr 2022. Bild: citizensassembly.ie

Verfassungsreform: Abtreibung und gleichgeschlechtliche Ehe

Irland hat 2012 erstmals Bürgerräte eingesetzt, um Verfassungsänderungen zu diskutieren. Der „Konvent zur Verfassung“ wurde vom irischen Parlament einberufen und tagte in regelmäßigen Abständen zwischen Dezember 2012 und Mai 2014. Er brachte 66 nach dem Zufallsprinzip ausgewählte Bürger/innen mit 33 Abgeordneten zusammen – ein ungewöhnliches Merkmal, da bei den meisten Räten nur Bürger/innen ausgewählt werden. Der Vorsitz brachte die Gesamtzahl der Teilnehmer/innen auf 100.

Es folgte die „Bürgerversammlung“, die von 2016 bis 2018 lief und an der nur zufällig ausgewählte Bürger/innen teilnahmen.

Die beiden Versammlungen führten zu drei Verfassungsänderungen nach allgemeinen Volksabstimmungen. Dabei handelte es sich um die Streichung des Straftatbestands der Blasphemie aus der Verfassung, die Aufhebung der Beschränkungen für die Zivilehe aufgrund des Geschlechts, wodurch der Weg für gleichgeschlechtliche Ehen frei wurde, und die Aufhebung des 8. Verfassungszusatzes, womit der Weg für die Legalisierung der Abtreibung frei gemacht wurde. Ein viertes Referendum, bei dem es um die Herabsetzung des Mindestalters für das Amt des irischen Präsidenten von 35 auf 21 Jahre ging, endete mit einer großen Niederlage, denn nur 26,9% der Wähler stimmten dafür.

Es ist wichtig zu bedenken, dass in all diesen Fällen die Bürgerräte nicht allein für die Änderungen verantwortlich waren.

Jane Suiter, Politikwissenschaftlerin und Professorin am Institute for Future Media, Democracy, and Society der Dublin City University, ist eine der ursprünglichen Architektinnen des irischen Verfassungskonvents und der Bürgerversammlung. Sie hält es für eine Übertreibung zu behaupten, dass sie direkt zur Legalisierung der gleichgeschlechtlichen Ehe und der Abtreibung in Irland geführt haben. Nichtsdestotrotz spielten sie eine Schlüsselrolle.

„Dies waren sehr kontroverse Themen“, sagte sie gegenüber Democracy Technologies. „In gewisser Weise haben die Versammlungen diese sehr umstrittenen Themen entpolitisiert, indem sie es ermöglichten, sie so zu formulieren, wie die normalen Menschen darüber denken. So konnten sich die Politiker dahinter stellen und sagen: Auch wenn ich für das Leben bin, respektiere ich die Entscheidung der Menschen, eine Abtreibung vornehmen zu lassen, wenn sie es brauchen.“

Das irische Modell

Das irische Modell ist keineswegs eine Garantie dafür, dass die Empfehlungen angenommen werden. Die drei Verfassungsänderungen gehörten zu den insgesamt 28 Vorschlägen, die zwischen 2012 und 2020 von den Versammlungen eingebracht wurden – 24 davon wurden nie in einem Referendum angenommen. Die Entscheidung darüber, ob die Empfehlungen es so weit schaffen, liegt letztlich beim Oireachtas – dem irischen Parlament.

In der Tat übt das Parlament einen großen Teil der Kontrolle über den gesamten Prozess aus. Seit dem Bürgerrat von 2016 ist allein das Parlament befugt, die Tagesordnungen für die Versammlungen festzulegen – was bedeutet, dass ein Thema ohne die ausdrückliche Zustimmung des Parlaments gar nicht erst auf den Tisch kommt. Sobald Empfehlungen ausgesprochen werden, soll das Parlament sie debattieren. Doch in einigen Fällen lehnt das Parlament die Vorschläge einfach ab. In anderen Fällen gibt es nicht einmal eine formelle Antwort. Selbst in den Fällen, in denen ein Referendum anberaumt wurde, war es das Parlament, das die Sprache vorgab und die genaue Art der vorgeschlagenen Änderung bestimmte.

Die umfassende Beteiligung des Parlaments könnte als Schwäche angesehen werden – schließlich bedeutet dies, dass die Macht letztlich immer noch bei den gewählten Abgeordneten und nicht bei den zufällig ausgewählten Bürger/innen liegt. Sie erklärt aber auch den Erfolg des irischen Ansatzes, denn sie bietet einen formalen Rahmen für die Abstimmung über die Empfehlungen.

Deliberation, nicht Gesetzgebung

Dies bringt uns zum Kern eines der häufigsten Missverständnisse über Bürgerräte. Nämlich, dass sie eine Möglichkeit seien, gewählte Abgeordnete zu umgehen und die gesetzgebende Macht an normale Bürger/innen abzugeben. Sicherlich gibt es diejenigen, die überzeugende Argumente für eine Verschiebung in diese Richtung vorbringen, aber in der Praxis wurde bisher noch kein Bürgerrat mit diesem Ziel gegründet.

„Letztendlich wählen die Menschen die Politiker, damit sie auch tatsächlich legitimiert sind“, sagt Suiter. „Obwohl die Bürgerversammlungen in gewisser Weise repräsentativ sind, fehlt ihnen die demokratische Legitimation der gewählten Abgeordneten.“ Für Suiter besteht das Ziel der Versammlungen nicht darin, ihnen die Macht zu geben, Gesetze zu verabschieden und das Parlament zu umgehen. Vielmehr geht es darum, den normalen Bürger/innen eine stärkere Stimme im öffentlichen politischen Diskurs zu geben.

Wir sind daran gewöhnt, dass spezielle Interessengruppen in den Parlamenten Lobbyarbeit betreiben, aber es gibt nur wenige formalisierte Mechanismen, mit denen normale Bürger/innen wesentliche Beiträge zur Diskussion leisten können. Natürlich gibt es im digitalen Zeitalter keinen Mangel an Plattformen, auf denen die Menschen mitreden können, und die meisten Länder erlauben ihren Bürger/innen, Petitionen einzureichen oder sich direkt an ihre gewählten Abgeordneten zu wenden. Was jedoch selten ist, ist, dass sie die Zeit und die Mittel erhalten, um sich eingehend mit einem Thema zu befassen. Wenn man sich die Stunden Filmmaterial der Bürgerversammlungen zum Verlust der biologischen Vielfalt auf YouTube ansieht, wird deutlich, dass die Mitglieder der Versammlung dieser Aufgabe mehr als gewachsen sind – und dass sich die Diskussion deutlich von den zunehmend polarisierten Online-Diskussionsräumen und den traditionellen Medien unterscheidet.

Aussichten

Das irische Modell dient als Vorlage für andere Bürgerräte – vorausgesetzt, man ist sich über die Grenzen der Macht dieser Versammlungen im Klaren. Es sind auch weitere Schritte möglich, um die Wirkung von Empfehlungen zu erhöhen. In mehreren Fällen, so auch bei der Abstimmung über die Abtreibung, wurden parteiübergreifende parlamentarische Ausschüsse eingesetzt, um das Thema zu diskutieren. Dies führte zu einer ausführlicheren Diskussion.

Suiter plädiert dafür, dass dies zur Regel werden sollte, und weist darauf hin, dass die Empfehlungen zum Verlust der biologischen Vielfalt einen Antrag auf einen Sonderausschuss enthielten. Dies kann zwar den Prozess verlangsamen, führt aber letztlich zu einer höheren Qualität der Debatte und erhöht die Chancen, dass die Empfehlungen ernst genommen werden.

Zumindest vorläufig haben die Bürgerräte keine gesetzgeberische Macht. Aber sie können helfen, Beratungen voranzutreiben. Je mehr sie sich etablieren, desto mehr Aufmerksamkeit ziehen sie auf sich – denken Sie nur an die nationale und internationale Presseberichterstattung über die Versammlung zur biologischen Vielfalt in Irland oder die aktuelle Berichterstattung über die französische Versammlung zur Sterbebegleitung und Euthanasie.

Es bleibt abzuwarten, ob der Vorschlag, Umweltrechte in der irischen Verfassung zu verankern, Erfolg haben wird – die Entscheidung darüber, ob ein Referendum abgehalten werden soll, liegt beim Parlament. Die ausführliche Berichterstattung in der nationalen und internationalen Presse deutet darauf hin, dass das Thema nicht einfach aus dem öffentlichen Diskurs in Irland verschwinden wird, egal was passiert. Je mehr sich die Öffentlichkeit und die politischen Parteien für den Prozess engagieren und öffentlich dahinter stehen, desto zwingender wird es für die Politiker/innen, den Empfehlungen zu folgen und zu handeln.

Wie auch immer das Ergebnis ausfallen mag, Tatsache ist, dass die Bürger/innen die Möglichkeit hatten, ausführlich über ein wichtiges Thema unserer Zeit nachzudenken, den öffentlichen Diskurs zu diesem Thema zu gestalten und eine Diskussion unter den Gesetzgebern anzustoßen, die den Weg für ein mögliches Referendum ebnete.

Das ist ein großer Sieg für die deliberative Demokratie.

Dieser Artikel wurde ursprünglich auf englisch von Democracy Technology hier veröffentlicht. Das Copyright verbleibt beim ursprünglichen Herausgeber/Autor. Wiederveröffentlichung hier mit freundlicher Genehmigung. Deutsche Übersetzung durch Demokratie ohne Grenzen.

Graham Wetherall-Grujić
Graham Wetherall-Grujić is editor at Democracy Technologies