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V-Dem: Autokratisierung setzt sich fort, aber Widerstand wächst

Im April 2019 führten pro-demokratische Massenproteste in Algerien zum Rücktritt von Präsident Bouteflika. Bild: Protest am 10. März 2019 von Fethi Hamlati/Wikimedia Commons, CC BY-SA 4.0

Erstmals seit 2001 ist eine Mehrheit aller Staaten weltweit nicht demokratisch regiert. Dies ist eine der wichtigsten Erkenntnisse aus dem diesjährigen Report des Varieties of Democracy (V-Dem) Projects, der in der vergangenen Woche vorgestellt wurde.

Damit setzt sich der Trend der letzten Jahre auch in diesem Report fort, wonach sich viele Länder auf dem Weg Richtung Autokratie befinden. Laut den neusten Ergebnissen des schwedischen Forschungsinstituts werden 92 Nationen weltweit als Autokratien eingestuft, womit 54% der Weltbevölkerung in autokratischen Staaten leben. Dies sind acht Nationen mehr als noch im letztjährigen Bericht und mit Ungarn wird nun auch erstmals ein EU-Mitgliedsstaat als autokratisch eingestuft. Dem stehen weltweit 87 als demokratisch eingestufte Staaten gegenüber. Zur Spitzenzeit in 2010 waren es noch 98.

Bemerkenswert sind dabei zwei Faktoren. Zum einen sind sämtliche Weltregionen von dieser “dritten Autokratisierungswelle” betroffen und zum anderen sind mit Staaten wie den USA, Indien oder Brasilien auch mächtige Länder der G20 mit einer bedeutenden Volkswirtschaft auf dem Demokratie-Index abgerutscht.

Anzahl der Länder pro Regimetyp, 1972-2019. Quelle: V-Dem-Bericht 2020 (S. 13)

Wie einzelne Weltregionen und Staaten betroffen sind

Laut dem Report leben zurzeit 35% der Weltbevölkerung in Regierungssystem, welche sich in Richtung Autokratie bewegen und nur rund 8% der Weltbevölkerung in Nationen, welche sich in einem Demokratisierungsprozess befinden. Am stärksten betroffen von dieser Entwicklung ist Osteuropa und Zentralasien: in acht Ländern wurde eine signifikante Verschlechterung der Situation in den letzten 10 Jahren festgestellt. Alles in allem befanden sich im Jahr 2019 26 Nationen in einer Autokratisierungsphase, während es zu Beginn des Jahrhunderts noch 11 Länder weltweit waren. Eine ähnlich hohe Anzahl an Nationen, welche einen negativen Trend aufwiesen, wurde letztmals 1978 registriert. Am stärksten von diesem Trend betroffen sind Ungarn, die Türkei, Polen, Serbien, Brasilien und Indien.

Betrachtet man die verschiedenen Weltregionen etwas genauer, kann man feststellen, dass Sub-Sahara-Afrika die einzige Weltregion ist, in welcher die Mehrheit der Bevölkerung in sich positiv entwickelnden Regierungssystem lebt. Obwohl in den drei Weltregionen Asien und Pazifik, Lateinamerika und Karibik, sowie Westeuropa und Nordamerika sich nur wenige Länder in einer Autokratisierungsphase befinden, liegt der Anteil der Bevölkerung in diesen Regionen bei annähernd 40%. In Westeuropa und Nordamerika betrifft dies gar nur ein Land. Doch weil dies die Vereinigten Staaten sind, ist auch diese Entwicklung nicht zu unterschätzen. Das Forschungsteam betont, das gerade solche grossen Länder wie die USA einen Effekt auch auf die Entwicklung in kleineren Nationen haben können.

Länder, die sich substanziell demokratisiert oder autokratisiert haben, 2009-2019. Quelle: V-Dem-Bericht 2020 (S. 10)

Einschränkungen der freien Meinungsäußerung nehmen zu

Wie die schwedischen Forscher feststellen konnten, sind die Einschränkung von Medien- und Meinungsäusserungsfreiheit erste Anzeichen für einen Prozess der Autokratisierung. Umso nachdenklicher stimmt die Feststellung, dass Angriffe auf eben diese Freiheiten global zunehmen. Darüber hinaus zeigen die Daten auch einen Rückgang was die Qualität von freien und fairen Wahlen betrifft. In 16 Nationen wurde eine Verschlechterung der Situation festgestellt, gleichzeitig nur in 12 Ländern eine Verbesserung, was zu einer negativen Bilanz in Bezug auf freie und faire Wahlen führt. Auch zu beachten gilt es, dass die Polarisierung innerhalb der Gesellschaft weiter zunimmt.

Pro-demokratische Protestbewegungen auf einem Allzeithoch

Es können jedoch auch positive Schlüsse aus den Ergebnissen gezogen werden. So sind in fast der Hälfte aller Länder nachhaltige pro-demokratische Protestbewegungen entstanden, welche für demokratische Recht und faire Wahlen kämpfen. Nach Angaben von V-Dem gab es in 29 demokratischen Ländern sowie in 34 autokratischen Staaten pro-demokratische Massenproteste. Ihre Anzahl erreichte somit ein Allzeithoch und kann als Hoffnungsschimmer für die weitere Entwicklung gesehen werden.

Massenmobilisierung für die Demokratie, 1972-2019. Quelle: V-Dem-Bericht 2020 (S. 21)

In 22 Ländern haben solche Proteste auch zu einer nachhaltigen Demokratisierung beigetragen und Beispiele wie der Sudan, Gambia oder Ecuador machen Hoffnung für die zukünftige Entwicklung.

Die Studien des Varieties of Democracy Projects basieren auf der Einschätzung von über 3’000 lokalen Experten in der ganzen Welt, welche zusammen knapp 30 Millionen Datenpunkte betreffend Demokratie, Menschenrechten, Zivilgesellschaft und andere mehr erarbeiten.

Stefan Kalberer
Stefan has been Chair of the Swiss chapter of Democracy Without Borders since 2021 and is a PhD candidate at the Centre for Democracy Studies in Aarau. He has a Master's degree in European Global Studies.