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Globale Bürgerräte sollen zur Belebung der UN beitragen: neuer Bericht

Delhi, India - September 18, 2014: Crowd of people on the street of Chandni Chowk in Old Delhi, India on September 18, 2014.

In einer Zeit zunehmender globaler Krisen haben zwei Gruppen, die sich für die Demokratie einsetzen, eine weitreichende Vision zur Demokratisierung der Global Governance vorgelegt: ein ständiger Mechanismus zur Einberufung von globalen Bürgerräten, englisch Global Citizens’ Assemblies (GCAs), innerhalb des Systems der Vereinten Nationen. Diese sollen dazu beitragen, die Weltorganisation durch den Input von Bürgerinnen und Bürgern aus aller Welt zu beleben und zu stärken.

In einem 90-minütigen Webinar, das auf YouTube verfügbar ist und von Democracy International und Democracy Without Borders gemeinsam veranstaltet wurde, stellten die Organisationen ihr gemeinsames Strategiepapier vor mit dem Titel Global Citizens’ Assemblies: Pathways for the UN – Principles, Design, and Implementation. Das Dokument empfiehlt, deliberative Foren zu institutionalisieren, die sich aus weltweit zufällig ausgewählten Bürgerinnen und Bürgern zusammensetzen, um sich zu drängenden transnationalen Fragen – vom Klimawandel bis zur KI-Ethik – zu äußern.

Während das Papier speziell auf die Umsetzung durch die UN eingeht, sieht es vor, dass es verschiedene Arten von GCAs geben wird, die von verschiedenen Akteuren als Teil eines sich entwickelnden “deliberativen Ökosystems” auf allen Ebenen eingerichtet werden.

Renata Sene, ehemalige Bürgermeisterin von Francisco Morato in Brasilien, eröffnete das Webinar mit einem Plädoyer für eine partizipative Regierungsführung, die auch zur Transformation ihrer Stadt beigetragen hat. Ihre Erfahrungen bei der Durchführung lokaler Bürgerversammlungen gaben den Ton für die Diskussion über die weltweite Verbreitung solcher Methoden an. “Wir haben ein Modell durchgeführt, bei dem wir sicher waren, dass die Bevölkerung mitmachen würde”, sagte sie. “Wir erreichten mehr als 60.000 Menschen durch zwei mehrjährige Planungsprozesse. Jetzt hören wir sogar von Kindern”, bemerkte die Autorin des Vorworts des Papiers.

Teilnehmende des Webinars, das Sie sich hier auf YouTube ansehen können

Überblick über das Papier

Tim Murithi vom Institute for Justice and Reconciliation in Südafrika bezeichnete GCAs als unverzichtbar für das “globale Interregnum” von heute. “Die Ordnung nach dem Zweiten Weltkrieg geht zu Ende. Wir stehen vor der Wahl, vor dem Autoritarismus zu kapitulieren oder eine neue demokratische Weltordnung zu schmieden”, sagte er. “Jeder Mensch muss das gleiche Recht haben, an der Neugestaltung seiner Gesellschaft mitzuwirken”, betonte Murithi. Er verwies auf historische Vorläufer dieser Idee, darunter das antike griechische Konzept des Demos und das stoische Ideal des Kosmopolitismus. GCAs sind eine Methode, um das globale Demokratiedefizit zu beheben und die UNO wiederzubeleben, so das Papier.

Zentrale Gestaltungsprinzipien und Umsetzung

Nicole Curato, jetzt an der Universität von Birmingham, erläuterte die wichtigsten Merkmale von Bürgerräten: zufällige Auswahl, informierte Beratung und gemeinsam erarbeitete Empfehlungen. “Unter den richtigen Bedingungen sind alle Menschen mehr als fähig, sich mit komplexen Themen auseinanderzusetzen”, sagte sie. “Es geht nicht nur um Repräsentation, sondern um eine durchdachte Beteiligung”, sagte sie. Curato wies auch auf die laufenden Debatten über die Fairness einer zufälligen Auswahl im Vergleich zu repräsentativer Vielfalt und Gleichheit hin, insbesondere für besonders betroffene Bevölkerungsgruppen, ein Thema, das in dem Strategiepapier angesprochen wird.

Caroline Vernaillen, Global Lead for Advocacy bei Democracy International, sprach die praktischen Herausforderungen bei der Globalisierung eines solchen Modells an, die in dem Papier hervorgehoben werden. “Wir haben kein globales Bevölkerungsregister. Sprach- und Technologiebarrieren und ungleiche Visabestimmungen erschweren die Teilnahme”, sagte sie. “Aber die Vielfalt der Menschheit ist kein Hindernis – sie ist eine Stärke”, bemerkte sie. Vernaillen verwies auf erfolgreiche Pilotprojekte wie die von der Zivilgesellschaft geleitete Bürgerrat zum Weltklima 2021 und die EU-Konferenz über die Zukunft Europas hin.

Integration von GCAs in das UN-System

Andreas Bummel, Geschäftsführer von Demokratie ohne Grenzen, stellte die wichtigste Empfehlung des Dossiers vor: die Einrichtung eines ständigen Rahmens für GCAs bei den Vereinten Nationen durch die UN-Generalversammlung gemäß Artikel 22 der UN-Charta. “Jedes UN-Gremium könnte dann auf flexible Weise seine eigene Ad-hoc-Weltbürgerräte einberufen. Der Rahmen würde von einem gemeinsamen Sekretariat koordiniert werden, um die Umsetzung zu unterstützen, hohe Standards zu gewährleisten und Synergien zu schaffen”, erklärte er. “Die Bürgerräte hätten zwar beratenden Charakter, aber ihre Beiträge müssten ernst genommen werden, zum Beispiel durch verbindliche Antworten auf ihre Empfehlungen.” Bummel betonte, dass die GCAs andere demokratische globale Reformen, wie eine Parlamentarische Versammlung bei den Vereinten Nationen und eine Weltbürgerinitiative, ergänzen sollten.

Überlegungen und Vorsichtsmaßnahmen

Im Anschluss an die Ausführungen der vier Mitautoren des Dokuments nahmen mehrere Fachleute und Praktiker an einer Podiumsdiskussion teil, um über das Strategiepapier zu reflektieren.

Farsan Ghassim von der University of Oxford warnte davor, das Grundprinzip der Zufallsauswahl zu verwässern: “Jede Abweichung vom Zufallsprinzip untergräbt die Legitimität”, sagte er. “Wenn wir bestimmte Gruppen überrepräsentieren, wer entscheidet dann, welche das sind? Das öffnet Eliteneinfluss Tür und Tor”, sagte er. Er warnte davor, dass solche Entscheidungen unbeabsichtigt genau die Machtungleichgewichte reproduzieren könnten, die die GCAs korrigieren sollen.

Mathias Koenig-Archibugi von der London School of Economics lobte das Dossier als ein Dokument, das breite Beachtung finden sollte, mahnte aber zur Vorsicht beim Framing: “Wenn GCAs als ein weiteres Elitenprojekt angesehen wird, könnte es genau die Bürgerinnen und Bürger verprellen, die es ansprechen will”, sagte er. “Wir müssen zwischen Form und Inhalt unterscheiden und sicherstellen, dass die Räte Pluralismus widerspiegeln. Er forderte die Befürwortenden von Bürgerräten zur Zurückhaltung auf, bestimmte inhaltliche Ergebnisse vorwegzunehmen, und betonte die Notwendigkeit, unterschiedliche politische Perspektiven zu berücksichtigen.

Ein Fall für die Institutionalisierung

Doina Stratu von der Polytechnischen Universität Valencia betonte, dass Bürgerräte innerhalb der öffentlichen Systeme institutionalisiert werden müssen, um Legitimität und Wirkung zu erlangen. “Bürgerräte sind kein Experiment mehr – sie sind eine strukturelle Korrektur für ein kaputtes System”, fügte sie hinzu. “Artikel 22 der UNO gibt uns einen rechtlichen Weg, dies zu verwirklichen”, betonte sie eine der Schlussfolgerungen des Papiers.

Antoine Vergne von Missions Publiques, ein erfahrener Praktiker, der derzeit an einer globalen Bürgerdebatte über KI arbeitet, sprach ein Wort der Warnung aus: “Wir sollten uns nicht auf ein Modell versteifen. Die Demokratie auf globaler Ebene muss fraktal, flexibel und vielstimmig sein”, sagte er. “Eine zu frühe Standardisierung könnte ihr Verhängnis sein”, warnte er. Vergne lobte außerdem den sich entwickelnden Einsatz von Bürgerpanels in der EU als Beweis für skalierbaren Erfolg.

Der Beitrag der Bürger zu den Klimaverhandlungen

David Levai von der Iswe Foundation schlug einen pragmatischen Ton an und verwies auf den mangelnden politischen Appetit auf UN-Ebene, insbesondere im Zusammenhang mit dem jüngsten Zukunftsgipfel im September 2024. “Der Zukunftsgipfel hat keinen politischen Willen gezeigt”, stellte er fest. “Wir müssen den Mehrwert durch Taten beweisen, nicht durch Theorie. Deshalb ist die bevorstehende Global Citizens’ Assembly im Vorfeld der nächsten Runde der Klimaverhandlungen COP30 in Brasilien so wichtig”, sagte er. Levai bezeichnete die von seiner Organisation geleitete Initiative als eine Chance, die Überlegungen der Bürgerinnen und Bürger direkt in die Klimaverhandlungen einzubeziehen und so möglicherweise ein Modell zu schaffen, das sich nachahmen lässt.

Schlussfolgerungen

Von brasilianischen Kleinstädten bis hin zu den Räumen der Vereinten Nationen gewinnt die Einbeziehung der Bürgerinnen und Bürgern in die Global Governance immer mehr an Bedeutung. Auch wenn es nach wie vor Herausforderungen gibt – insbesondere institutionelle Trägheit und politisches Zögern – argumentieren Befürwortende, dass GCAs die Legitimationslücke zwischen Regierungen und Regierten auf globaler Ebene schließen können.

In ihrer abschließenden Reflexion unterstrich die Moderatorin Nudhara Yusuf von der Coalition for the UN We Need die Dringlichkeit und den Ehrgeiz des Vorschlags. “Es geht nicht nur darum, einen Sitz am Tisch zu haben – es geht darum, mehr Tische zu schaffen”, sagte sie. “Ja, die Hürden sind real. Aber die Krise ist es auch. Und die Bürgerinnen und Bürger der Welt sind bereit.” Yusuf betonte, dass die GCAs eine neue demokratische Infrastruktur für eine gemeinsame globale Zukunft bieten. Sie ermutigte die Teilnehmenden und Regierungen gleichermaßen, “diesem Moment nicht mit Angst, sondern mit Mut zu begegnen.”

Das 40-seitige Strategiepapier ist jetzt auf den Websites von Democracy International und Democracy Without Borders verfügbar.