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Ist ein demokratisches globales Gemeinwesen machbar und wünschenswert?

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Dieser Artikel wurde ursprünglich auf iai.tv veröffentlicht. Übersetzung: DWB

Ein Gespenst geht um in der politischen Philosophie – das Gespenst der Weltregierung. Theoretikerinnen und Theoretiker streiten leidenschaftlich darüber, wie eine gerechte Weltordnung aussehen sollte. Einige befürworten die Forderung nach grenzüberschreitenden Solidaritätspflichten, während andere eine klare Unterscheidung zwischen dem, was Menschen ihren Landsleuten schulden, und dem, was sie Fremden schulden, befürworten. Sie sind sich auch uneinig darüber, wie die Welt regiert werden sollte. Die Meinungen reichen von einer entschiedenen Verteidigung der nationalen Souveränität bis hin zum Eintreten für stärkere und demokratischere globale Institutionen. Was die meisten Mitwirkenden an dieser Debatte jedoch eint, ist die Abneigung gegen die Idee einer politischen Vereinigung der Menschheit unter einem Weltstaat. Eine solche Aussicht geht selbst entschlossenen Verfechtern und Verfechterinnen einer kosmopolitischen Ethik wie Kwame Anthony Appiah, Seyla Benhabib, Jürgen Habermas und Martha Nussbaum einen Schritt zu weit.

Immer noch brechen große Kriege aus, und Konflikte zwischen atomar bewaffneten Mächten beunruhigen Menschen, die weit jenseits ihrer Grenzen leben.

The Universal Republic: A Realistic Utopia?
Von Mathias Koenig-Archibugi
Oxford University Press, 2024

Das Misstrauen und die offene Feindseligkeit gegenüber der Idee einer Weltregierung haben tiefe Wurzeln. Immanuel Kant, der Aufklärer, der viele zeitgenössische Darstellungen globaler politischer Gerechtigkeit inspiriert, vertrat die Ansicht, dass die Errichtung einer “Weltrepublik” von der Vernunft gefordert wird. Letztendlich entschied er sich jedoch für ein, wie er es nannte, “negatives Surrogat”, d.h. einen rein freiwilligen Zusammenschluss freier Staaten, der den Frieden unter seinen Mitgliedern fördern würde, ohne selbst Zwangsgewalt auszuüben. Einige Schlüsselelemente dieser Kant’schen Vision sind in den Gründungsurkunden der Vereinten Nationen und anderer multilateraler Organisationen verankert. Die offensichtlichen Grenzen dieser Organisationen verdeutlichen jedoch auch die Kehrseite eines globalen Regierungssystems, das auf dem Prinzip der Zustimmung der Staaten und dem Fehlen einer zentralen Durchsetzung beruht. Immer noch brechen große Kriege aus, und Konflikte zwischen atomar bewaffneten Mächten beunruhigen  Menschen, die weit jenseits ihrer Grenzen leben. Die Behauptung, dass alles in Ordnung wäre, wenn nur jedes Land demokratisch regiert würde, ist zu einfach: Wie Jean-Jacques Rousseau schon vor langer Zeit feststellte, können auch gut regierte Demokratien ungerechte Kriege beginnen.

Warum also nicht eine Weltregierung?

Darüber hinaus müsste die Weltregierung heute ein breiteres Spektrum von Problemen angehen als nur Kriege zu verhindern und zu beenden. Die Abschwächung des Klimawandels, die Abwendung von und die Reaktion auf Pandemien, der Schutz der Artenvielfalt und die Eindämmung der Gefahren der künstlichen Intelligenz sind nur einige der zusätzlichen Aufgaben, die eine internationale Zusammenarbeit erfordern. Das hohe Maß an Interdependenz und gegenseitiger Verwundbarkeit, das wir heute in der Welt beobachten, in Verbindung mit den Schwächen der bestehenden internationalen Institutionen, sollte uns dazu veranlassen, die uralte Frage zu überdenken: Warum also keine Weltregierung?

Zwei Antworten auf diese Frage sind oft zu hören. Die erste ist, dass, wie der bekannte Wissenschaftler für internationale Beziehungen Kenneth Waltz es ausdrückte, die Aussicht auf eine Weltregierung eine Einladung wäre, sich auf einen Weltbürgerkrieg vorzubereiten. Zweitens: Selbst wenn eine Weltregierung zustande käme, wäre sie – mit den denkwürdigen Worten von Hannah Arendt – ein abschreckender Alptraum der Tyrannei. Mit anderen Worten: Selbst wenn ein Weltstaat realisierbar wäre, wäre ein demokratischer Weltstaat nicht möglich. Und nur wenige politische Philosophinnen und Philosophen wären bereit, Demokratie und grundlegende Freiheiten zugunsten der hypothetischen Vorteile zu opfern, die ein Weltstaat bringen könnte.

Dies sind starke Einwände gegen die Idee einer Weltregierung. Aber reichen sie aus, um die Frage zu klären? Wahrscheinlich nicht. Das Argument, dass ein Weltstaat als Demokratie nicht überleben könnte und zwangsläufig in Tyrannei oder einen globalen Bürgerkrieg ausarten würde, verlässt das Terrain der Philosophie, das die natürliche Heimat von Kontroversen über die relative Bedeutung von Werten wie Freiheit und Gemeinschaft ist, und stützt sich stattdessen auf eine Reihe von faktischen Annahmen darüber, wie Politik funktioniert – jetzt und in absehbarer Zukunft. Der Versuch der Skeptikerinnen und Skeptiker, “realistisch” zu sein, ist lobenswert, aber wir sollten uns fragen, was genau sie zuversichtlich macht, dass die Dinge schlecht ausgehen würden, wenn es den Befürworterinnen und Befürwortern einer Weltregierung gelänge, die Bürgerinnen und Bürger und die führenden Politikerinnen und Politiker der Welt von der Richtigkeit ihrer Sache zu überzeugen. Kurz gesagt: Was sind die relevanten Beweise, und was sagen sie uns?

Mein kürzlich erschienenes Buch The Universal Republic: A Realistic Utopia? befasst sich mit dieser Frage. Darin geht es unter anderem um die Frage, ob ein Weltstaat demokratisch sein und für lange Zeit bestehen kann, wenn man die vermeintlich ungünstigen Bedingungen wie die extreme Vielfalt der Welt in Bezug auf ethnische Zugehörigkeit, Religion und Sprache, das hohe Maß an wirtschaftlicher Ungleichheit und andere von den Skeptikerinnen und Skeptikern hervorgehobene Merkmale berücksichtigt. Ich habe die Tatsache genutzt, dass wir heute Zugang zu einer Fülle von Daten über diese kulturellen und wirtschaftlichen Merkmale in fast zweihundert Ländern über mehrere Jahrzehnte hinweg sowie zu Daten über das Überleben und den Zusammenbruch der Demokratie haben.

Mit anderen Worten, ich habe überprüft, ob ein ursprünglich demokratischer Weltstaat dazu bestimmt ist, in den von einigen befürchteten Alptraum einer Tyrannei oder eines Weltbürgerkriegs zu kippen.

In einem ersten Schritt trainierte ich einen maschinellen Lernalgorithmus, um Muster in der Beziehung zwischen demografischen, kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Merkmalen von Ländern einerseits und der Wahrscheinlichkeit, dass die Demokratie in diesen Ländern im Laufe der Zeit überleben wird, andererseits zu erkennen. Dieses maschinelle Lernverfahren bewertete die relative Fähigkeit verschiedener Merkmalskombinationen, das Überleben der Demokratie vorherzusagen, und wählte die aussagekräftigsten aus. Der zweite Schritt bestand darin, die resultierenden Modelle auf die demografischen, kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Merkmale eines hypothetischen Staates anzuwenden, der die ganze Welt umfasst, und die Wahrscheinlichkeit abzuschätzen, dass ein solcher Staat langfristig eine demokratische Regierungsform beibehalten würde. Mit anderen Worten, ich habe überprüft, ob ein ursprünglich demokratischer Weltstaat dazu bestimmt wäre, in den von manchen befürchteten Alptraum einer Tyrannei oder eines Weltbürgerkriegs zu verfallen. Das Ergebnis dieser Analysen wird viele überraschen: Wenn ein Weltstaat gegründet würde, ist die Wahrscheinlichkeit, dass er langfristig eine demokratische Regierungsform beibehalten würde, ziemlich hoch und ähnlich hoch wie die durchschnittliche Wahrscheinlichkeit, dass die Demokratie in den Ländern überlebt, die seit 1900 irgendwann einmal demokratisch waren. Mit anderen Worten: Die globale Demokratie wäre nicht anfälliger als die bestehenden nationalen Demokratien.

Eine solche Vereinigung könnte nur durch die freiwillige Zusammenlegung von Souveränität durch Vertreter der Staaten zustande kommen, ähnlich dem Prozess, der zu den Vereinigten Staaten von Amerika im achtzehnten Jahrhundert, dem Commonwealth of Australia im neunzehnten Jahrhundert und der Europäischen Union im zwanzigsten Jahrhundert führte.

Aufmerksamen Leserinnen und Lesern wird ein entscheidender Vorbehalt im vorherigen Absatz aufgefallen sein: “wenn ein Weltstaat gegründet würde…” Vielleicht wäre ein Weltstaat gar kein so großer Alptraum, aber es wäre Zeitverschwendung, über seine Wünschbarkeit zu debattieren, wenn er schlichtweg unerreichbar ist. Mein Buch enthält auch zu diesem Aspekt einige Beweise. Zunächst einmal schließe ich Zwang als einen gangbaren (geschweige denn wünschenswerten) Weg zur Bildung eines Weltstaates aus: In einer Welt mit neun atomar bewaffneten Mächten, mehreren anderen Anwärtern auf den Status einer Atommacht und 27 Millionen aktiven Militärs und Paramilitärs wäre der Widerstand gegen eine aufgezwungene politische Vereinigung unüberwindbar. Eine solche Vereinigung könnte nur durch die freiwillige Zusammenlegung von Souveränität durch Vertreter der Staaten zustande kommen, ähnlich dem Prozess, der im achtzehnten Jahrhundert zu den Vereinigten Staaten von Amerika, im neunzehnten Jahrhundert zum Commonwealth of Australia und im zwanzigsten Jahrhundert zur Europäischen Union führte. Eine solche Entwicklung setzt voraus, dass sich überall auf der Welt zur gleichen Zeit günstige Gelegenheiten bieten – zugegebenermaßen ist das unwahrscheinlich. Aber ist es auch unmöglich?

Positionen darüber, wie wir mit gemeinsamen globalen Herausforderungen umgehen sollten, sollten nicht mit dem Verweis auf scheinbar sachliche Aussagen darüber, was in der politischen Welt möglich ist und was nicht, abgetan werden, wenn diese Aussagen keiner systematischen empirischen Prüfung unterzogen wurden.

Regierungen mögen zwar zögern, ihre Macht abzugeben, aber für viele Skeptikerinnen und Skeptiker liegt das Problem noch tiefer: Die Bürgerinnen und Bürger auf der ganzen Welt schätzen die nationale Souveränität und werden jede Politikerin und jeden Politiker stoppen, der sie beschneiden will. Diese Ansicht ist sicherlich plausibel, nicht zuletzt angesichts der Wahlerfolge nationalistischer Parteien in vielen Ländern. Allerdings ist die Idee einer Weltregierung sowohl in der Bevölkerung als auch bei führenden Vertreterinnen und Vertretern der Zivilgesellschaft erstaunlich populär, wie zahlreiche Umfragen in der ganzen Welt zeigen. Mein Buch enthält zahlreiche Belege dafür, aber die Ergebnisse einer aktuellen Studie von Farsan Ghassim und Markus Pauli verdienen besondere Aufmerksamkeit. Sie haben rund 42.000 Bürgerinnen und Bürger in siebzehn Ländern der Welt befragt und sind zu dem Ergebnis gekommen, dass eine demokratische Weltregierung in allen Ländern mehrheitlich befürwortet wird, mit Ausnahme der Vereinigten Staaten. Natürlich ist es nicht dasselbe, in einer Umfrage seine Unterstützung für einen solch großen politischen Wandel zum Ausdruck zu bringen, wie dafür zu werben oder für politische Parteien zu stimmen, die diese Idee unterstützen. Viele Menschen werden vielleicht zögern, nachdem sie die Implikationen sorgfältig bedacht haben. Die Beweise zeigen nicht, dass ein demokratischer Weltstaat unvermeidlich oder sogar wahrscheinlich ist. Aber sie zeigen, dass sein Entstehen das Ergebnis einer Politik sein kann, wie wir sie aus anderen Zusammenhängen gewohnt sind: das komplexe Zusammenspiel von Aktivistinnen und Aktivisten, die sich dafür oder dagegen einsetzen, von Bürgerinnen und Bürgern, die Vorschläge im Lichte ihrer Interessen und Werte bewerten, und von Politikerinnen und Politikern, die Veränderungen in der öffentlichen Meinung bei der Formulierung ihrer Politik und bei Verhandlungen untereinander berücksichtigen.

Niemand kann mit Sicherheit sagen, wie die Weltpolitik in fünfzig oder hundert Jahren aussehen wird. Die Welt könnte immer noch in fast zweihundert unabhängige Staaten aufgeteilt sein, oder die Menschheit könnte sich durch gemeinsame repräsentative Institutionen selbst regieren, oder eine globale Katastrophe könnte die Uhr um hunderte von Jahren zurückdrehen. Positionen darüber, wie wir mit gemeinsamen globalen Herausforderungen umgehen sollten, sollten nicht mit dem Verweis auf scheinbar faktische Aussagen darüber, was in der politischen Welt möglich ist und was nicht, abgetan werden, wenn diese Aussagen keiner systematischen empirischen Prüfung unterzogen worden sind. Manchmal bietet die Politikwissenschaft ein heilsames Gegenmittel gegen übermäßigen Optimismus. Im Falle der Weltregierung besteht ihr Hauptbeitrag jedoch darin, aufzuzeigen, warum das Thema eine ernsthafte Debatte wert ist.

Diese Arbeit basiert auf Mathias Koenig-Archibugi’s kürzlich erschienenem Buch The Universal Republic: A Realistic Utopia? Der Artikel wurde ursprünglich auf iai.tv veröffentlicht. Das Copyright verbleibt beim Originalverlag und/oder dem Autor. Übersetzung ins Deutsche: DWB.

Mathias Koenig-Archibugi
Mathias Koenig-Archibugi is Associate Professor (Reader) of Global Politics at the London School of Economics